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Elisa von der Recke

Tagebuch einer Reise durch ein Theil Deutschlands
und durch Italien in den Jahren 1804 bis 1806

Berlin 1815




Portrait of Elisa von der Recke by Anton Graff.
Image: Wikimedia.

P. 104-105: "Den 23 April [1805]. Ein reicher Kunstgenuss war uns in Canovas Werkstatt bereitet. (...) Hierauf führte uns Canova in das Zimmer wo sich die in Ostia aufgegrabenen Kunstsachen befinden. Mittelmässiges und Vollkommnes; eine Menge von Köpfen, Händen, Füssen, Basreliefen und Trümmern von Bauzierathen sind hier zusammengetragen; es war als träte man auf den Schauplaz wo Krieg und Zerstörung ihre Spuren zurückgelassen; der Künstler machte uns aufmerksam auf die Abweichungen des Geschmacks in den verschiedenen Zeitabschnitten und auf die Erscheinungen in den Vor- und Rückschritten der alten Kunst; er zeigte, dass auch unter den Alten sehr mittelmässige Arbeiter sich befunden und dass manches von ihren auf uns gekommenen Werken kein anderes Verdienst als das der Alterthümlichkeit habe. Das vorzüglichste unter allen diesen ostiensischen Ueberbleibseln ist der Kopf eines jungen Mark Aurels. Eine auffallende Sonderbarkeit stellt ein Bacchuskopf dar, der nicht nur wie es sich wohl geziemt, mit Weinlaub bekränzt, sondern auch mit einem Barte von solchem Laube, welches ihm aus Kinn und Backen spriesst, geschmückt ist. Ein heutiger Künstler, meinte Canova, würde mit einem Einfalle dieser Art in die züchtigenden Hände der Kritik fallen.

Endlich zog noch ein colossaler Minervenkopf meine Betrachtung auf sich; er zeigte im ganzen von einer geübten Künstlerhand, die ihn aber mit schwarzen Augäpfeln und vergoldeten Augenwimpern entstellt hatte, und folglich ein Zeitalter verrieth als sich die Kunst schon zur Künstelei hinüber neigte. Wo die goldne Einfalt verschwindet, da tritt vergoldete Ziererei an ihre Stelle. Ueberhaupt muss ich gestehn dass ich diese ganze Sammlung tief unter meiner Erwartung fand; diese war in mir nämlich durch einen höchst vortrefflichen Venuskopf erregt worden, von dem ich in Wörlitz bei der Fürstin von Dessau eine Nachbildung in Marmor gesehen hatte. Die vollständige wohlerhaltene Bildsäule selbst, für welche der Kopf eine so günstige Vermuthung erzeugte, war durch die von dem Prinzen August von England vor einigen Jahren veranstaltete Nachgrabung in Ostia aufgefunden worden, und dieser hat das Urbild mit sich genommen. Bei unserm Abschiede äusserte Canova, dass der Pabst huldvoll meiner gedacht und sich der letzten Worte, womit er mich entlassen, erinnert habe. Ich beschloss daher dem ehrwürdigen Pius meine wiederholte Huldigung darzubringen."

P. 109: "Den 25 April [1805]. (...) Mit besonderer Auszeichnung sprach er [der Pabst] von Canova den er täglich sieht und nächst dem von Camuccini Auch über den scharfsinnigen und kenntnissreichen Zoega äusserte er sich mit Hochachtung und Liebe, wodurch die Unterredung in das Alterthum und zu den Ausgrabungen in Ostia hinübergelenkt wurde, in deren Fortsetzung die feindliche Zeit einen bösen Stillestand gebracht hat. Bei jeder Wendung des Gespräches zeigte der Pabst einen vielseitig gebildeten Geist und treffendes Urtheil; und in den gemüthlichen Nebenideen welche gelegentlich hervortraten, offenbarte sich immer der reine edle Menschensinn, der mein früheres Urtheil von seinem Charakter bekräftigte; und ich nahm auch diesmal von dem ehrwürdigen Pius ein Herz voll Befriedigung mit."

P. 109. "Den 1 May [1805]. Bei meinen Beschäftigungen mit der römischen Geschichte war mir der Namen Ostia wichtig geworden; und der Anblick der dort aufgefundenen Alterthümer in Canovas Werkstatt hatte die Merkwürdigkeit dieses Ortes in meinem Gedächtnisse wieder lebhaft erneuert; ich beschloss daher morgen in der Begleitung Zoegas und Reinhards mit meiner Gesellschaft einen Ausflug dahin zu machen, besonders da ich durch die letzte Unterredung mit dem Pabste eine neue Anregung dazu erhalten hatte. Die geschichtliche Vorbereitung zu dieser kleinen Reise erinnerte mich wiederum an den schwachen halb wahnsinnigen abergläubigen und aus Furchtsamkeit grausamen Kaiser Claudius, der Ostia vorzüglich liebte und auf dessen Verherrlichung grosse Summen verwendete. In dem Hafengewässer hatte er sich auf den Grund versenkter Schiffe eine Villa erbauen lassen, in welcher er sich seinen kindisch pedantischen Ergötzungen ungestört überliess. Hier war es vermuthlich wo er den letzten tollen Frevel seiner berüchtigten Messalina erlebte."

P. 109-130. "Den 3 Mai [1805]. Man kann in Rom mit ziemlicher Sicherheit auf die Witterung rechnen, wenn man einen Ausflug selbst auf mehrere folgende Tage, vorausbestimmt: und so begünstigte denn auch gestern ein schöner etwas kühler Maytag unsre Reise nach Ostia. Dieser Ort liegt am Ausflusse der Tiber, achtzehen Miglien von Rom. Unser Weg ging aus dem Paulsthore neben dem Scherbenberge der Piramide des Cestius und der Paulskirche hin, über Ponte Salaro sonst pons Nomentanus genannt. Wir zogen in dieser Richtung dem Meere zu durch eine wüste, ruinenvolle Ebene, wo, so weit das Auge reicht, Verlassenheit und Verwilderung herrschen. Kaum ist die Spur eines vorhandenen menschlichen Daseyns hier wahrzunehmen. Versumpfungen ehemals fruchtbarer Aecker vergiften mit ihren Ausdünstungen die Luft. Schon die Alten sollen der ungesunden Beschaffenheit dieser Gegend erwähnen, jene kann aber, bei der vormaligen grossen Bevölkerung dieser, weder den Grad der Schädlichkeit, noch die gegenwärtige Allgemeinheit erreicht gehabt haben: und dennnoch ist hier die Luft so klar, dass sich die fernsten Gegenstände in den schärfsten Umrissen darstellen.

Hin und wieder fährt man noch auf den breiten Steinen der alten römischen Strasse, die auf beiden Seiten mit Palästen, Landhäusern, Gärten und prunkreichen Mausoleen eingefasst war: so dass vormals der ganze Weg von Rom nach Ostia eine ununterbrochene Fortsetzung der Hauptstadt scheinen musste. Die blühende Ebene durchkreuzten und verschönerten kostbare Wasserleitungen, deren Trümmer jetzt zerstreut umherliegen. Ein einziges unzerstörtes Denkmal der alten Zeit ist noch vorhanden: es ist der vorbenannte pons Nomentanus, eine aus grossen Quadern erbaute Brücke, die sich über den Anio dem heutigen Teverone wölbt. Dieses Werk trägt ganz den Charakter des alten Volkes: Kraft und Unerschütterlichkeit. Auf der Brücke steht eine kleine Hütte, die dem Zollwärter zum Nachtlager dient, um auch zur Nachtzeit, wo die Brücke gesperrt ist, den Uebergangszoll einzunehmen. Dieser Mann besisst nicht fern von hier ein Wirthshaus und bezieht in den Sommermonaten mit seiner ganzen Familie diese Hütte, um sich und die Seinen der bösen Luft zu entziehn, welche in der Nähe eines lebendigen Wassers ihre Schädlichkeit verliert.

Durch eine Wendung der Landstrasse naheten wir uns wieder dem, zwischen lebhaft grünen Sumpffluren sich hinabwindenden Tiberflusse: er ist das einzige freundliche Bild welches in dieser Einöde einen erquickenden Anblick gewährt. Aber weder die angenehmen Krümmungen dieser schleichenden Flut, noch das hohe Wiesengrün, noch der heitere Himmel, vermögen den düstern Eindruck zu mildern, den die Ausgestorbenheit der ganzen Gegend auf die Empfindung desjenigen macht, der sie nicht ganz gedankenlos durchwandert. Nach dem ersten Drittheil des Weges gelangten wir zu einem elenden Wirthshause; und wie armselig dies auch erscheint, so ist es doch erfreulich, die frischen Spuren eines menschlichen Daseyns anzutreffen, obgleich auch dieses neben dem Tode wohnt, in den Trümmern eines alten Grabes. Näher nach Ostia hin, bringen ein paar kleine Seen einige Abwechselung in das traurige Einerlei. Der grössere dieser kleinen Seen, Stagno d'Ostia, soll fischreich seyn; dagegen ist der kleinere, der den bezeichnenden Namen: Fiume morto trägt, ein Aufenthalt von Fröschen und giftigen Insekten.

Wir erreichten endlich Ostia selbst. Dieser kleine Ort, der mit dem Namen des alten prangt, ist so unbedeutend, dass er mit dem ersten Blicke übersehn werden kann. Die alte Hafenstadt lag, wie ihre Trümmer nachweisen, eine halbe Miglie von dem neueren Anbau in jener Gegend, wo die Tiber sich in zwei Arme spaltet, welche eine, vormals dem Apollo geheiligte Insel, umfassen. Schon Ankus Martius legte den Grund zu dieser Stadt und brachte daselbst die Salinen in Gang, wo das, aus verdünstetem Seewasser gewonnene Salz gesammelt wurde. Im Verhältniss zu der immer weiteren Ausdehnung des römischen Staates hob auch dieser Ort sich nach und nach zu einer gewissen Wichtigkeit empor. Der Hafen wurde der Lagerplatz der römischen Flotte; doch geschah die Ausrüstung kriegerischer Schiffe, während der Republik, nur bei Gelegenheit eines ausbrechenden Seekrieges. In der letzten Hälfte des siebenten Jahrhunderts von Roms Entstehung machte sich die Piratenrepublik in Cilicien im ganzen mittelländischen Meere furchtbar, und wagte endlich sogar die in der Tiber liegenden römischen Schiffe zu verbrennen: daher Pompejus im Jahre Roms 687 zur Bestrafung einer solchen Frechheit auf drei Jahre die unbeschränkteste Befehlshaberschaft über das ganze Seewesen der Römer erhielt, so dass er aus dem öffentlichen Schatz Schiffe bauen und ausrüsten lassen konnte, so viel er deren bedurfte.

Er betrieb dies Geschäft mit ausserordentlicher Thätigkeit und überfiel die Piraten mit einer solchen Schnelle und Rastlosigkeit, dass sie überall geschlagen wurden; und neun und vierzig Tage, nach dem Auslaufen der römischen Flotte wagte kein Seeräuberschiff mehr, sich auf dem Meere blicken zu lassen. Jedoch wurde bald nachher das Kriegswesen zur See von den Römern wieder vernachlässiget, bis Augustus bei Pelorum und Actium gelernt hatte dass, das Schicksal des festen Landes auch auf dem Meere entschieden werden könne: und nun lagen fortan auf beiden Seiten Italiens, besonders zu Misenum und Ravenna, Flotten in Bereitschaft. Das Vorhaben Cäsars, auch in Ostia einen Hafen anzulegen, führte Claudius, sein dritter Nachfolger, aus. Dieser liess zu dem Zweck an der Tibermündung ein grosses Wasserbehältniss ausgraben, vor welchem zwei mit dem Ufer parallel laufende Seedämme aufgeführt wurden, um die andringende Wuth der Meereswellen sich daran brechen zu lassen. In der, zwischen den beiden Dämmen durchströmenden, Flut wurde ein Leuchtthurm errichtet, zu dessen Grundlage das ungeheure Schiff dienen musste, worauf Caligula den Vatikanischen Obelisk aus Egipten nach Rom hatte bringen lassen. Späterhin erweiterte Trajan diesen Hafen, an dessen Vervollkommung schon immer gearbeitet worden, durch ein zweites ausgegrabenes Wasserbehältniss und verschönerte solches mit einem Portikus, der es mit prächtigen Hallen umgab. Alles ward aufgeboten, was zur Verherrlichung der Stadt und der Gegend dienen konnte.

Der Unbedeutsamkeit des neuen Ostia habe ich schon erwähnt. Die Hauptzierde des Ortes ist ein Castell, mit zwei runden Thürmen aus dem sechszehnten Jahrhundert. Die Thürme verrathen eine solche Vortrefflichkeit in Anlage und Ausführung, dass einige den Michel Angelo für den Baumeister derselben halten. Diess feste Schloss dient jetzt nur dazu, Gefangene aufzubewahren. Der bischöfliche Sitz daselbst ist ein weitläufiges schönes Gebäude, mit einer hübschen Kirche; aber sichtbar sind die Spuren der Verfallenheit auch an diesem Pallaste, den der arciprete (Erzpriester) mit seinem Gehülfen bewohnt. Nächst diesen zwei merkwürdigen Gebäuden, ist noch die St, Sebastianskirche zu nennen, welche zugleich zum Begräbnissorte der Einwohner dient. Die ganze Bevölkerung des neuen Ostia besteht in sieben Familien; jedoch auch diese ziehen, der bösen Luft wegen, im Sommer fort, und kehren nur zur Bearbeitung der wenigen Felder auf einige Tage zurück. Die Bleibenden sind dahin verbannte Verbrecher und Flüchtlinge. Der arciprete mit seinem Gehülfen verweilet hier vom November bis zum Juny; der letztere ist verpflichtet, in den Sommermonaten wöchentlich zweimal zum Messelesen für die wenigen Zurückbleibenden dahin zu wandern. Dem Erzpriester ist ein Gehalt von zehen Scudi monatlich angewiesen.

Eine kleine Bibliothek die ausschliesslich Heiligenlegenden enthält, gewährt ihm seine einzige Geistesnahrung; sein übriger Reichthum besteht in einer Jagdflinte, einer Violine, einem Schreibtisch, einem Esstisch, einem Bette und etlichen schlechten Stühlen welches alles mit der, auf Ueberfluss berechneten, Grösse des öden Pallastes übel zusammenstimmt. Indessen hatte die Menschennatur diesen Mann besser ausgestattet, als das Glück. Sein gutes offnes Gesicht kündigte inneren Frieden, Heiterkeit des Geistes und eine gesunde Lebensweisheit an: lauter Erwerbungen, die er nicht aus seiner Bibliothek geschöpft haben konnte. Bei dem sichtbaren Hange zur geselligen Fröhlichkeit erträgt er dennoch diese schauderhafte Einsamkeit mit Frohsinn. Jeder Besuch eines Fremden, sagte er, werfe einen hellen Punkt in sein verlassnes Daseyn, der ihm noch lange nachleuchte, und einige werthe Bekanntschaften begleiten ihn mit freundlichen Erinnerungen durch das Leben. In der grossen Welt, setzte er hinzu, verdränge ein Eindruck den andern; da liebe man die Menschen nicht so innig, als in solcher gezwungenen Abgeschiedenheit, wo man durch fremde Leidenschaften weniger gedrückt und durch die eigenen seltener verführt werde. Mit Wohlwollen und Herzlichkeit gab er sein Tischgeräthe und selbst einen eben gefangenen Fisch zur Bereitung unsers Mittagsmahles her (Wir nahmen zu unserm Ausfluge nach Ostia unsere Bedürfnisse mit; denn selbst das Brod für die wenigen Einwohner muss aus Rom herbeigeführt Werden). Wir waren recht vergnügt, und die Gesellschaft unsers guten Erzpriesters erheiterte unser frugales Mahl noch mehr.

Unter dem kleinen Völkchen in Ostia überzeugte ich mich neuerdings von dem nicht schlechten Grundcharakter der Italiener. Wir wurden von den Einwohnern umringt; sie folgten uns bis in das Schloss, aber nicht Bettler-Zudringlichkeit, sondern freundliche, gutmüthige, sogar dienstfertige Neugier hatte sie herbeigelockt. Männer, Frauen und Kinder wetteiferten, uns kleine Gefälligkeiten zu erweisen. Auf allen Gesichtern drückte sich Gutmüthigkeit, aber auch der Einfluss der ungesunden Gegend aus. Nur Ein schöner, kräftiger Mann von blühender Gesichtsfarbe ging unter diesen mehr und minder bleichen Gestalten, wie ein Herkules, umher. Dieser schwarzköpfige Mann, mit schönen feurigen Augen, einer römischen Nase und krausem schwarzem Barte, war die freundliche Behendigkeit selbst, um uns allerlei Dienste zu leisten. Ihm ist das Kastellanamt in dem bischöflichen Pallaste übertragen; sein ganzes Wesen erschien so fröhlich und wohlgemuth, als ob das reinste Gewissen ihn beseelte; und doch hatte er, wie ich nachher erfuhr, vor nicht langer Zeit eine Mordthat begangen, welche die Veranlassung war, dass er sich unter dem Schutz des Kardinals Albani, der gegenwärtig Bischof von Ostia ist, hieher flüchtete. Reinhard fand den Ausdruck dieses kräftigen Gesichtes so anziehend, dass er eine sehr wohlgetroffene Profilzeichnung schnell davon entwarf, die ich meinen Bemerkungen beifüge. Beim Abschiede reichte dieser Mann mir auf die verbindlichste Weise einen Blumenstraus dar, und weigerte sich standhaft, ein Gegengeschenk dafür anzunehmen. Dann führte er mir noch seine hübsche, sauber gekleidete Frau, von fünf schönen, gesunden Kindern begleitet, an den Wagen und sagte: "Mit solchen Schätzen lebt es sich auch in der Wüste zufrieden."

Der noch nicht lange Aufenthalt dieser Familie hieselbst hatte den mitgebrachten Vorrath an Gesundheit noch nicht sichtbar angegriffen. Uebrigens besteht die hiesige Einwohnerschaft mehrentheils aus Verbrechern, welche die Strafe des Gesetzes, oder die Furcht davor hieher trieb. Auch mögen die wenigen, durch irgend ein kleines Eigenthum hier ansässigen, Familien Nachkommen verbrecherischer Väter seyn.

Die Regierung, indem sie Ostia zu einem Straforte und zu einer Freistätte für Uebelthäter bestimmte, hatte die Absicht: den Betrieb des Salzerzeugnisses durch den mindesten Kostenaufwand zu erhalten und hiernächst, durch Begünstigung neuer Anbane der Verbannten und Flüchtlinge die verlassene Gegend wieder zu bevölkern. Der Erfolg entsprach in keinem Betracht dieser doppelten Absicht; aber er erzeugte eine merkwürdige moralische Erscheinung. Die auf solche Weise hieher verbannte Missethäterkolonie, um deren inneres Leben die Regierung sich nicht bekümmerte, errichtete aus eigenem Antriebe unter sich eine gewisse ordnungsmässige Verfassung, in welcher nicht nur die Bestimmungen der Obliegenheiten, sondern auch die gradmässigen Strafen für die Uebertretungsfälle festgesetzt waren. Auch hatten sie alle, über sie ausgesprochenen obrigkeitlichen Verfügungen mit in ihre eigenen Verordnungen aufgenommen. Nur der Bischof konnte, der obrigkeitlichen Bestimmung gemäss, einem Verbannten die Erlaubniss ertheilen, auf 24 Stunden nach Rom zu gehen; diese Erlaubniss, musste der Beurlaubte, dem selbstgewählten Vorsteher der Kolonie anzeigen; und der, den römischen Sbirren etwa entwischte, Missbrauch einer solchen Erlaubniss wurde sodann in der Kolonie mit einer festgesetzten Anzahl von Stockschlägen bestraft, einer Ahndung, welcher sich der Uebertreter ohne Widerrede unterwarf. Auf solche Weise bestraften sie auch Betrügereyen oder Diebereyen, die in der Kolonie vorfielen; persönliche Beleidigungen aber wurden durch Zweikampf geschlichtet. In der Strenge ihrer selbstrichterlichen Entscheidungen gingen sie so weit, dass sie sogar Todesurtheile gefällt und vollzogen haben sollen. Wie fest diese Republik auf Ordnung und Recht unter sich hielt, davon wurden mir mehrere Beispiele erzählt. So tief ist das Gefühl oder das Gesetz für Zucht und Recht in das menschliche Gemüth eingedrückt, dass es selbst an den entschiedensten Missethätern sich nicht ganz unbezeugt lässt.

Seit sechzehen Jahren besteht jene Einrichtung des Salzwerkbetriebes nicht mehr, weil der Ertrag den Kostenaufwand, der gehoften Ersparniss ohnerachtet, nicht abwarf. Mit der Aufhebung dieser Anstalt löste sich auch die sonderbare Verbrecherrepublik von selbst auf; denn das Asylrecht des Ortes war nun förmlich zurückgenommen worden. Indessen wird es mit der Verfolgung der, nach Ostia sich flüchtenden, Mörder, wenn der Mord nicht mit Strassenraub verknüpft ist, so genau nicht gehalten, wie das Beispiel des oberwähnten Kastellans beweiset.

Einiges Salz wird jetzt noch in Ostia gewonnen, obgleich die Regierung die unmittelbare Theilnahme an dem Betriebe aufgegeben hat. Das Gebäude der ehemaligen Siederei steht verödet und verlassen auf dem halben Wege nach Alt Ostia.

Unsere Rückreise machten wir über die ruinenvolle Ebene dieser alten berühmten Hafenstadt. Wenn das Auge die weite Einöde überschaut, so scheint es, als ob in diesem Raume eine grosse Stadt plötzlich nieder geschmettert, und auf die ordnungslos zusammengestürzten Trümmer ein grüner Teppich hingeworfen sey, der die untenliegende Verwirrung wahrnehmen lässt. Auf und absteigend setzten wir unsre mühsame Wanderung fort. Ein empfindlich scharfer Wind strich über die hügligte Grabstätte der versunkenen Herrlichkeit. Wir gingen an Trümmern vorbei, die keine Spur vormaliger Bestimmung mehr darboten; nur bezeichnen sie den Umfang der verschwundenen Stadt. Hin und wieder ragen ein paar Pinien empor, wie einsame Trauergestalten auf dem Grabe gefallener Grösse. Zu einer Ruine kamen wir, die ein altes Götterheiligthum andeutet, und die man für Reste eines Neptunustempels hält. Granit und Marmorbruchstücke von Säulen liegen an diesem Gemäuer umher zerstreut, worunter sich trefflich gearbeitete Kapitäle befinden, auch andre Marmorreste, die mit den Basreliefs geziert sind.

Der an diese Ruine angrenzende, flache Raum, lässt durch seine längliche Ausdehnung ein hier gewesenes Forum vermuthen. Vor dem sogenannten Neptunustempel ging ehemals zur Täber hinab eine breite Strasse von welcher ein kleiner Theil aufgedeckt ist: da sieht man nun zu beiden Seiten zwölf bis funfzehn Fuss hohe Mauern alter Gebäude, welche letztere noch gänzlich verschüttet sind.

Aus den vorhandenen Anzeigen lässt sich auf den hohen Wohlstand und auf die ungemeine Bedeutsamkeit dieser alten Hafenstadt schliessen; denn hier wurde ja der Raub ausgeladen, den die Römer aus entfernten Welttheilen zusammen schleppten; hier wurden zur weitern Verführung die Waaren niedergelegt, welche das Bedürfniss foderte und Ueppigkeit und Prachtsucht begehrten; hier an der vormals so anmuthigen Küste hinab und hinauf dehnten sich Villen und Prachtgärten aus. Grosse Reichthümer mögen unter dieser grünen Decke noch ruhen! Welch ein Bild des alten römischen Lebens würde sich unserm Blicke darstellen, wenn ein, mit Nachdruck und Beharrlichkeit durchgeführtes, Unternehmen eine so ansehnliche Hafenstadt, wie Ostia, wogegen Pompeji nur wenig bedeutete, aus dem Grabe auferstehen liesse, so dass man durch die breiten Strassen, zwischen den zierlichen Häusern, wandeln könnte, über deren Dächer wir jetzt hinschreiten.

Einige glückliche Ausgrabungen sind durch die Veranstaltung der gegenwärtigen Regierung erfolgt, deren ich bereits oben erwähnt habe. Die Entdeckungen würden ergiebiger gewesen seyn, wenn man nicht immer mit dem Auswurf der neuen Grube die ältere überschüttet hätte; die schnelle Berasung macht den durchsuchten Raum bald unkenntlich. Durch ein solches Verfahren ist es geschehen, dass spätere Bemühungen auf Punkte trafen, wo die Schätze bereits gehoben waren.

Etwa zwei Miglien von Ostia liegt schattenreich und freundlich das Kastell Fusano, welches dem Prinzen Chigi gehört. Mit dem herrlichsten Pinienwalde prangend, scheint es ein zurückgelassenes Ueberbleibsel des verschwundenen Paradieses zu seyn; aber auch unter diesen einladenden Pinienschirmen hauset in den Sommermonaten menschenfeindliche Luft, wie ein böser Geist des Fluches, der auf diesem, durch Missethaten so vielfach befleckten Boden, lastet. In dieser Gegend lag das Laurentinum des jüngeren Plinius, von welchem er eine so reizende Beschreibung macht. "Du wunderst Dich" schreibt er an seinen Freund Gallus, "dass mein Laurentinum mir so ausserordentlich gefällt. Du wirst Dich aber nicht mehr wundern, wenn ich Dich mit der reizenden Anmuth dieses Landhauses, mit dessen vortheilhaften Lage, und mit dem weiten Umfange des Seeufers werde bekannt gemacht haben. Auf beiden Seiten des Weges dahin hat man eine mannigfaltige Aussicht; bald wird der Weg durch Waldung verengt, bald auf weite Wiesen geöffnet und ausgebreitet. Hier sieht man Heerden Schaafe, Pferde und Ochsen, die durch den Winter von den Bergen vertrieben und durch frische Weide und Frühlingswärme fett und glatt werden. - Der Aufenthalt im Winter ist hier sehr angenehm, aber noch weit mehr um Sommer." u.s.w. Also herrschte zu damaliger Zeit keine böse Sommerluft in dieser Gegend, wie heutiges Tages.

Eine Miglie von Fusano findet sich allerlei zerfallnes Gemäuer, welches man für die Trümmer jenes Landhauses hält; aber wer erräth in diesen unförmlichen Ruinen die ehemalige Lieblichkeit eines freundlichen Ruhesitzes für einen Weisen? und doch haftet an diesen rauhen Trümmern das sanfte Gedächtniss des Edlen, der in der Trajanischen Christenverfolgung sich durch Klugheit und Milde hervorthat.

Woher kam über das blühende Leben, das hier waltete, eine so furchtbare, so vertilgende Zerstörung? Der Eindrang der Gothen im sechsten Jahrhundert der christlichen Zeitrechnung vernichtete die kostbaren Wasserleitungen; neue Verwüstungen fügten im neunten Jahrhundert die Vandalen hinzu; sie setzten sich in Ostia fest und streiften bis an die Thore Roms, wurden aber bald genöthigt, wieder abzuziehn. Dann hat, was die Barbaren übrig liessen, im Laufe von zwölfhundert Jahren die Tiber mit ihrem Schlamme bedeckt. Dieser Schlammansatz ist so weit in das Meer vorgerückt, dass der alte Hafen drei Miglien weiter landeinwärts lag, als der heutige, der nicht viel bedeutet.

Ist dieses der Raum, fragt der Geschichtskundige, wo die Denkmale des Ueberflusses, die Schauplätze der lüsternen, sinnlichen Ueberfeinerung und Schwelgerei prangten? Herabgestürzt in die tiefste Verlassenheit sind nun alle jene, mit den Triumphen der Kunst geschmückten, Werke des Reichthums und der Macht! Ein schweres Gericht ist über die unersättlichen Weltverwüster gekommen, die keinem Volke den Genuss seines ruhigen Daseyns erlaubten; das vergeltende Schicksal hat zermalmend sie ergriffen, ein Schicksal, welches die glücklichsten Ungerechtigkeitet die gelungensten Verbrechen nur bis zu einem gewissen Punkte der Vollendung gedeihen lässt: und nun weicht von diesem Boden nicht mehr der über das grösste Frevelvolk ausgesprochene Fluch!

Büffelheerden lagern sich jetzt in den sumpfigen Vertiefungen, wo sonst in blumigen Thälern die Lusthayne der römischen Grossen säuselten. Kein menschliches Wesen vermag mehr auf längere Zeit ungestraft in dem Raume zu athmen, wo einst die Stimme der wildesten Lust und des lautesten, frechsten Uebermuthes erscholl. Kaum erkennet der Dichterfreund, die Aeneide in der Hand, an den unvergänglichen Merkmalen der umgebenden Natur jetzt noch die Stellen, über welche Virgil seine trojanischen Flüchtlinge wandeln lässt. Fragend steht der Fremdling da; aber stumm und öde streckt sich vor ihm hinab die unabsehbare Wüsteney. Hieher sollte die warnende Nemesis einen heutigen Eroberer führen, auf dass er erkennen lerne die unsichtbare Hand, welche den höchsten Glücksstand so tief herabzustürzen vermag."


[jthb - 9-Jun-2020]